schicksale

Zerrissenes Land, zerrissenes Leben

Gunther wird 1940 als Sohn eines höheren Zollbeamten in der DDR geboren. Als Kind ist er lieber im Wald als in der Schule. Der Vater bringt ihn daraufhin früh ins Erziehungsheim. Von dort flieht er mehrfach, wird eingefangen und immer wieder zurückgebracht. Später beginnt er eine Lehre als technischer Zeichner. Nach versuchter und gescheiterter Republikflucht landet er im Gefängnis, wird aber freigekauft und kommt in die BRD. Er bleibt ein Einzelgänger. Wegen wiederholter Diebstähle wird das Gefängnis zum ständigen Aufenthaltsort. Gunther hat sicherlich die Hälfte seines Lebens in Gefängnissen verbracht. Ein Gerichtspsychologe sieht darin den unbewussten Wunsch nach einem „schützenden Zuhause“. In den Zeiten in Freiheit lebt er in Schrebergärten, wird Alkoholiker und Kettenraucher. Dazwischen immer wieder verrückte Aktionen: Am Wilhelmsplatz müssen ihn Polizei und Feuerwehr mit Leitern von einem Dach holen – völlig betrunken hinaufgeklettert, war er unfähig wieder herunterzukommen. Ein andermal ruft die Kölner Bahnpolizei bei seiner Betreuerin an: Gunther war ohne Fahrkarte, aber volltrunken, nach Köln gefahren.

Bei einem der letzten Gefängnisaufenthalte erleidet er kurz hintereinander einen Herzinfarkt und einen Gehirnschlag. Er kann kaum mehr sprechen. Nach ein paar Jahren wird ihm ein Bein amputiert (Raucherbein), wird anschließend noch 6 mal operiert, ist permanent an den Rollstuhl gebunden, raucht aber pausenlos weiter. Allmählich wird auch das zweite Bein schwarz, was allerdings auch mit seiner „Diät“ zusammenhängen kann: Er isst seit Jahren nur Milch, Schokolade und Salami. Gunther ist ungeduldig, unleidlich, kaum zu lenken; dennoch leisten seine Mitbewohner Nachbarschaftshilfe, verlässlich und auf die Minute genau, denn er kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen. Sie fahren ihn im Rollstuhl zum Einkaufen und halten sein Zimmer in Ordnung. Den Tag vertreibt er sich mit Fernsehen, mit Bildgeschichten – und mit Rauchen.

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