schicksale

 

Die erste Frage ist natürlich, was ist Erfolg? Ist es ein Erfolg, wenn OBDACH e.V. viel Geld bewegt und Spenden einnimmt, oder ist es ein Erfolg, wenn möglichst viele Klienten von OBDACH e.V. einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt finden? Ist es ein Erfolg, wenn möglichst viele Menschen bei OBDACH e.V. ein Dach über dem Kopf finden, oder ist es ein Erfolg, wenn einige stabilisiert werden und wieder selbstständig in einer eigenen Wohnung leben? Man sieht, dass sich der Erfolg der Arbeit von OBDACH e.V. nur schlecht messen, oder gar quantifizieren lässt. Wir definieren es als einen Erfolg für OBDACH e.V. wenn es uns gelingt, die Lebensqualität von (ehemals) Obdachlosen zu steigern. Jeder Schritt zählt, sei es der Umzug von der „Strasse“ in ein eigenes Zimmer mit unbefristetem Mietvertrag, sei es der Umzug in eine „normale“ Wohnung weil man keine Betreuung mehr braucht. Dazwischen liegen viele Erfolge, aber auch manche Rückschläge, die sich aus der Vergangenheit ergeben. Anhand von drei beispielhaften Lebensgeschichten sollen unsere Erfolge und Misserfolge verdeutlicht werden.

Neue Heimat

Herr W. wurde 68 Jahre alt. Er lebte 19 Jahre lang bei OBDACH e.V. Als seine beiden Eltern starben, war er erst 15 Jahre alt. Nach seinem Volksschulabschluss wurde er Sprengmeister im Bergbau. Diesen Beruf übte er 20 Jahre lang aus. Im Alter von 20 Jahren heiratete er; aus der Ehe gingen 2 Töchter hervor. Nach 4 Jahren starb seine Frau nach einem Autounfall. Herr W. hat seine Kinder mit Unterstützung seiner Geschwister allein großgezogen.
Herr W. hatte damals als junger Mann den Tod seiner Frau nicht leicht verkraftet. Alkohol spielte eine wichtige Rolle in diesem Lebensabschnitt. Er hatte Kontakt zu einer Rockergruppe, der Kontakt intensivierte sich, als seine Töchter erwachsen waren. Über die Rockergruppe ist er auch nach Heidelberg gekommen.
Hier fand er eine Wohnung und Arbeit in einem Industriebetrieb, wo er 8 Jahre lang beschäftigt war. Nach der Trennung von einer neuen Lebenspartnerin wurde er wohnungslos. Er nahm schließlich Kontakt zu OBDACH e.V. und bekam ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft.
Herr W. wirkte zunächst verbittert und negativ, er erweckte den Eindruck, dass er niemand an sich heranlassen wollte. Gleichzeitig merkte man aber bei engeren Kontakten, dass er gerade auf diese Weise versuchte, Nähe zu erzeugen. Insgesamt war Herr W. jedoch als psychisch stabil zu bezeichnen. Aber sein gesundheitlicher Zustand hat ihm zu schaffen gemacht. Er war chronisch krank, litt unter Diabetes, Bluthochdruck und an einer arteriellen Verschlusskrankheit an beiden Beinen. Von seinem früheren Beruf hatte er eine Staublunge. Er war nikotin- und alkoholabhängig.
Was ihm gut geholfen hat, war das Angebot einer Beschäftigung bei OBDACH e.V.: Seine Tätigkeit in der Waschküche hat ihm ein relativ geregeltes Leben ermöglicht. Er machte diesen Job über Jahre mit Hingabe und Sorgfalt. Er versorgte alle Bewohner des Vereins mit frischer Wäsche und gewann dadurch ihre Sympathie.
Nachdem er sich etwas stabilisiert hatte, gab es eine Trendwende in seinem Leben: er hatte fast über ein Jahr alkoholabstinent gelebt, ohne dass er eine professionelle Therapie in Anspruch genommen hatte. Allerdings gab es nach neuen Kontakten mit dem Motorradclub, über die er zunächst froh und stolz war, einen kurzen Rückfall.
Herr W. gewann zunehmend die Überzeugung, dass er bei OBDACH e.V. seine Heimat gefunden hatte und fühlte sich zuhause. Er war sich bewusst, dass seine vielen Krankheiten zu ernsten Problemen führen mussten. Er wusste, dass er langfristig auf noch mehr Hilfen angewiesen sein und diese auch erhalten würde.
Aufgrund seines immer schlechteren gesundheitlichen Zustandes bekam er 2008 eine ebenerdige kleine 1-Zimmerwohnng. Diese wurde behindertengerecht eingerichtet. Zu seinem direkten Nachbarn hatte er gutes Verhältnis. Auch die anderen Bewohner kamen gerne zu ihm und besuchten ihn. Er konnte für eine gewisse Zeit einigermaßen mit einer Hilfe seinen Haushalt führen.
Nach einer Beinamputation – einer Folge der arteriellen Verschlusskrankheit – und wegen seiner sonstigen chronischen Erkrankungen war er in seinen Aktivitäten und seiner Lebensqualität wesentlich eingeschränkt. Seine Stimmung war dementsprechend oft niedergeschlagen. Das Positive am Ganzen war jedoch, dass er zum zweiten Mal aufgehört hatte, Alkohol zu konsumieren.
Das half ihm auch, Unterstützung anzunehmen und sich kooperativ zu zeigen. Mit den gesamten Hilfen, die seine Mitbewohner, die Sozialarbeiter und die ehrenamtliche Krankenschwester des Vereins ihm angeboten hatten, konnte die stationäre Unterbringung in einem Pflegeheim lange Zeit unterbleiben. Dies war auch im Sinne von Herrn W. gewesen. Er fühlte sich trotz seiner begrenzten Möglichkeiten zufriedener und ruhiger.
Nach der Amputation erhielt er einen Rollstuhl, eine Prothese und noch mehr Hilfen, wie Essen auf Rädern und Hilfe beim Einkaufen. Alle waren bereit ihn zu unterstützen, darüber hinaus wurden alle notwendigen professionellen Hilfen von OBDACH e.V. und von außerhalb für ihn eingesetzt. Die Hilfe von den Nachbarn der internen OBDACH-Gemeinde war sehr herzlich und wurde von ihm gerne angenommen.
Mit all diesen Unterstützungsleistungen ist es gelungen, dass Herr W. trotz seiner vielen gesundheitlichen Beeinträchtigungen beinahe 20 Jahre lang in seiner neuen Heimat ein zufriedenstellendes Leben führen konnte. Erst nach seiner völligen Erblindung als Folge des Diabetes und der Abnahme des zweiten Beines musste er sein langjähriges Zuhause aufgeben und in einem Pflegeheim Aufnahme finden.
Sardar Bamarni

Scheitern
Im September 2014 stellte sich unseren Sozialarbeitern ein 40-jähriger Mann vor, hier Herr R. genannt. Er hatte wenige Monate zuvor seine Wohnung verloren und lebte nun im Bauwagen eines Bekannten. Diese Übernachtungsmöglichkeit war ihm nur übergangsweise gewährt worden, daher wollte er so schnell wie möglich wieder in ein normales Wohnumfeld zurück. Er hatte große Pläne: wollte seine Alkohol- und Drogenabhängigkeit beenden, Arbeit finden, sich mit seiner ehemaligen Partnerin aussprechen, sich um seinen Sohn kümmern und seine Schulden zurückzahlen. Bei all dem wollte OBDACH e.V. helfen.
Kurz nach dem Einzug in eine Wohngemeinschaft von OBDACH e.V. tauchten allerdings die ersten Schwierigkeiten auf. Die Polizei griff ihn auf, weil er eine Rechnung nicht bezahlt hatte. OBDACH e.V. gewährte ihm ein Darlehen, welches einen Gefängnisaufenthalt verhindern konnte. Trotz seiner anfangs guten Vorsätze gelang es Herrn R. immer weniger, seinen Alkoholkonsum einzuschränken. In seinem Zustand war es ihm nicht mehr möglich, seine Termine wahrzunehmen, sodass sich immer mehr behördliche Probleme auftürmten. Sein Bewährungshelfer drohte mit einer Meldung an das Amtsgericht, sollte er Termine nicht einhalten (was zu einem Widerruf der Bewährung führen kann), das Jobcenter mit Kürzungen, das Jugendamt forderte Rückstände aus Unterhaltszahlungen ein. Obwohl diese Probleme mit unserer Hilfe lösbar gewesen wären, sah sich Herr R. nicht in der Lage, mitzuwirken und stürzte sich stattdessen tiefer in seine Sucht. In der Folge gab es nun auch Ärger mit den Nachbarn, da er diese in betrunkenem Zustand beschimpfte, nachts randalierte, die Musik viel zu laut laufen ließ und seine Freundin schlug.
Auf Anweisungen und Hilfsangebote ging er nicht ein, seiner Meinung nach war jeder gegen ihn und wollte ihm nur schaden. Immer wieder wies er jede Hilfe von sich und wurde bei jedem neuen Versuch immer wütender, bis die Situation schließlich eskalierte. Er bedrohte bei einem Hausbesuch die Mitarbeiter von OBDACH e.V. und wurde daraufhin abgemahnt. Bedauerlicherweise brachte die Abmahnung kaum eine Verhaltensänderung mit sich, Herr R. hielt sich weiterhin nicht an die Ruhezeiten und Hausregeln. Seine Mitbewohnerin litt schwer unter dieser Situation und musste ausquartiert werden, da sie große Angst vor ihm hatte und nicht mehr mit ihm zusammen wohnen wollte. Sein anderer Mitbewohner war todkrank, um diesen kümmerte sich Herr R. aber sehr aufopfernd. Ende Januar 2015 starb sein Mitbewohner.
Nach dessen Tod entglitt Herrn R. die Wohnsituation endgültig. Er bedrohte und beschimpfte die Nachbarn, beschädigte sogar absichtlich deren Auto. Die Polizei war ständig vor Ort und nahm ihn mehrfach in Gewahrsam. Schließlich waren die Kündigung der Wohnung und der Betreuung nicht mehr zu umgehen.

Neustart

Sascha M., 42 Jahre alt, seine Vorgeschichte in Stichpunkten erzählt: keine abgeschlossene Ausbildung, geschieden, 3 Kinder, Suchtproblematik, Schulden, häufig wechselnde Arbeitsstellen, immer wieder auch Wohnungsverlust aus unterschiedlichen Gründen.
Erstmals wurde Herr M. 2010 bei uns vorstellig, aber es kam wegen aggressiven und alkoholisierten Verhaltens bei Besuchen in einer unserer Wohngemeinschaften nicht zu einer Aufnahme. Es gelang ihm aber damals noch einmal, auf dem freien Wohnungsmarkt ein Zimmer zu finden.
Im Frühjahr/Sommer 2014 kam er wieder fast jede Woche zu uns in den OBDACH-Treff und wies darauf hin, dass bei ihm die Räumungsklage laufe und er am 01. August 2014 obdachlos werde. Wir sagten ihm, er habe wegen seines Verhaltens in der Vergangenheit Zutrittsverbot bei OBDACH e.V, eigentlich sei er kein Kandidat für uns. Er bat um eine „2. Chance“ – und er wolle wirklich „einen Neuanfang“ machen. Er räumte ein, bereits mehrere Wohnungen verloren zu haben, meist wegen Mietschulden, die mangels Übersicht über seine Finanzen entstanden seien. Herr M. hat bereitwillig über seine Vorgeschichte und momentanen Verhältnisse Auskunft gegeben und bei allen Aufnahmeformalitäten sehr gut mitgewirkt. Wir haben uns daher entschieden, es mit ihm noch einmal zu versuchen und ihn in einer 2-Zimmer-Wohnung mit einem weiteren Mitbewohner aufgenommen.

Nach einigen Anlaufschwierigkeiten (gescheiterte Arbeitsversuche wegen Überforderung, zeitweilig überhöhter Alkoholkonsum, Streit im Wohnumfeld) hat sich die Situation sukzesherr-msive gebessert und stabilisiert. Seine Finanzen werden seitdem in enger Zusammenarbeit mit ihm vom Verein verwaltet und eingeteilt. Seine Schuldenproblematik ist mit Hilfe eines privaten Insolvenzverfahrens inzwischen geregelt. Herr M. hat seine Zähne sanieren lassen, was mit sehr vielen Sitzungen und auch Schmerzen verbunden war, um sein Erscheinungsbild zu verbessern und so die Chancen bei Bewerbungen auf einen Arbeitsplatz zu erhöhen.

Im Sommer 2015 suchte sich Herr M. aus eigener Initiative eine Arbeitsstelle bei einer Zeitarbeitsfirma im Regalservice, zunächst in Form einer geringfügigen Beschäftigung, die nach einigen Wochen in eine Halbtagsstelle umgewandelt wurde. Herr M. war hier sehr engagiert und zuverlässig, so dass er im Januar d. J. sogar die Stellung eines Teamleiters innehatte.

Leider war diese Arbeitsstelle auf Teilzeit beschränkt und bot kaum Aussicht auf volle Übernahme. Herr M. erhielt außerdem während dieser Tätigkeit ergänzende Leistungen vom Jobcenter (Hartz IV). Er wollte aber eine Vollzeitstelle haben und hat sich weiter beworben. Seit 01.05.16 hat er eine Vollzeitstelle als Hausmeisterhelfer in einem Heidelberger Krankenhaus und fühlt sich sehr wohl.

Er ist nun nicht mehr vom Jobcenter abhängig und sorgt für seinen Lebensunterhalt wieder selbst. Herr M. hat seinen Alkoholkonsum schrittweise reduziert und ist inzwischen komplett trocken. Er sagt, der Verein habe aufgefangen ihn, ohne uns wäre er komplett abgestürzt.

Herr M. schätzt an unserem Angebot, dass er nicht nur ein Dach über dem Kopf hat, sondern eine verlässliche Anlaufstelle, um seine persönlichen und behördlichen Angelegenheiten besprechen zu können. Durch unsere Unterstützung bei Schriftverkehr und Schuldenregulierung, habe er den Kopf frei bekommen und könne sich auf seine Arbeit konzentrieren.

Herr M. sucht nun dringend eine Wohnung für sich alleine, er möchte gerne seine Kinder tageweise zu sich holen.