Eröffnungsrede der Aktionswoche 2017

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Hier die Eröffnungsrede der Aktionswoche ARMUT 2017 in der St. Bonifatiuskirche Heidelberg am 15.10.17 von Annette Heiß-Ritter:

 

E s r e i c h t! B e i v i e l e n N I C H T !

lesen Sie auf den Programmen 2017 und noch einmal verstärkt auch auf den Plakaten:

V i e l e n r e i c h t e s n i c h t ! Mit der Hervorhebung: Viele reich!

Die Botschaft knüpft an die Großplakate der letzten Jahre an: Armut für alle und Genug für alle.

Und steht unter dem Landesweiten Kampagnenruf: ARMUT bedroht alle!

Wir können das durchaus hintereinander lesen: Armut und Reichtum ist für alle in der Gesellschaft ein Thema. Armut bedroht nicht nur die direkt Betroffenen. Die wachsende Armut und Ungleichheit verbreitet Angst bei bisher abgesicherten Menschen, die das Vertrauen in unseren Sozialstaat verlieren. Sie ist wie ein Geschwür was sich ausbreitet. Viele sehen: Ja eigentlich ist doch genug für alle da. Es müsste doch in unserm modernen, starken und reichen Land für alle reichen, um ein würdevolles Leben führen zu können – wie es Prof. Andreas Kruse formuliert. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Vordergründig entlastet dabei Verdrängung: „Mir kann das nicht passieren!“. Schuldzuweisungen: „Die sind doch selbst schuld“ gaukeln uns vor, dass das mit uns ja gar nichts zu tun hat. Doch die Ungleichheit hat Auswirkungen auf alle in unserer Gesellschaft.

Das Thema ist nun wahrlich nicht neu. Es ist ein leiser – viel zu leiser – Dauerbrenner im täglichen Neuigkeiten- und Nachrichtenmarkt. Und die Fakten im Bereich Armut und Armutsbedrohung zeigen keine Entwarnung. Wir beobachten die unheilvolle Entwicklung des weiteren Auseinanderdriftens der Gesellschaft in wenige sehr Reiche und viele Arme. Auch die zunehmende Kinder und Altersarmut sind erschreckende Phänomene.

Dies hier ist auch ein Dauerbrenner: Die 14. und wohl noch sehr lange nicht letzte Aktionswoche gegen Armut und Ausgrenzung und FÜR soziale Integration in Heidelberg. Heidelberg – eine wohlhabende mitteleuropäische Stadt in einer prosperierenden Region in der Mitte der sogenannten wirtschaftsstarken „blauen Banane“ – in der sehr viele gut gebildete und gutsituierte Bürgerinnen und Bürgern leben. Aber eben auch viele, denen es weitaus schlechter geht, allein in Heidelberg rund 12-13.000 Menschen, darunter viele Kinder. Mit der Woche wollen wir die Bemühungen, diese Situation zu ändern, stärken. Deshalb sind wir heute hier.

Zeitgleich wird heute um 17 h in Frankfurt der Friedenspreis des deutschen Buchhandels an die Kanadierin
Margret Atwood verliehen. Über sie konnten wir vor ein paar Tagen in unserer Lokalzeitung lesen:
„Margret Atwood befasst sich auch mit dem Seelenleben ihrer Protagonisten, das sei „der Kern der Literatur: wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?“ Die Menschen wollen immer das Gleiche, sagt sie. Auf einer Anhöhe leben. Ein Gewässer überblicken. Wissen, wie man sich schützt. Das ginge nur, wenn wir den CO2-Ausstoss verringern, keine Ozeane kaputt machen, unsere Lebensgrundlage nicht zerstören. Und nicht das So-ziale vergessen. „Wir bräuchten eine Gesellschaft, in der niemand dazu verdammt ist, in der sozialen Klasse zu verharren, in die er hineingeboren wurde. Das wäre meine realistische Utopie“, hat Margret Atwood gesagt.

Weiter lesen wir in der RNZ am Mittwoch im Kommentar von Klaus Welzel, der dem selbsternannten Visionär Emmanuel Macron schreibt: „Jedenfalls hat Macron eines verschwiegen: Eine Gemeinschaft braucht neben kul-turellen Werten und Leistungsbereitschaft auch ein soziales Gewissen. Ein unglückliches Kind braucht den Staat genauso, wie das Lernende, wie der Arbeitslose, wie der Mensch ohne Obdach. Lesen verhilft zur Bildung. Aber es reicht nicht alleine. So schön die ökonomischen Erfolge von Hartz IV und Co. sind: eine egoistische Gesell-schaft scheitert an sich selbst.“

Frau Adwood und Herr Welzel kommen also zur gleichen Aussage wie wir auf dem Plakat: Da reicht etwas nicht!

Der reale Stellenwert, den das SOZIALE hat – REICHT NICHT! Das Soziale ist Systemrelevant, es ist Bindeglied und Fundament in der Gesellschaft und eben keine NUR kleine Fußnote im Haupttext von Wirtschaft, Banken, Industriezweigen, Kultur, usw.

Unsere gemeinsame Bürgeraktion “Das Soziale zurück in die Politik!“ war vor der Bundestagswahl aktuell und ist es nach diesem Wahlergebnis umso mehr! Der liberale Markt regelt eben nicht alles! Wir haben den Willen nicht in Resignation zu verfallen, sondern als NGO´s, als sogenannte Nichtregierungsorganisationen, und damit als Bürger*innen und Experten für benachteiligte und teilweise verbitterte Teile der Bevölkerung aufmerksam zu machen und uns laut zu Wort zu melden.

E s r e i c h t! B e i v i e l e n N I C H T !
Bewusst hat sich das Bündnis für diese vielschichtige Botschaft entschieden. Es reicht nicht aus – und Es reicht! – Es muss etwas geschehen! Darin steckt Nachdruck, Aufrütteln, Wut, Kraft, aber auch Ratlosigkeit, Verzweiflung, Empörung und gesellschaftlicher Sprengstoff.

Viele der 51 Mitglieder des Heidelberger Bündnisses sind heute hier, um unserem gemeinsamen Anliegen Aus-druck zu verleihen. Ich kann sie jetzt nicht alle 51 vorstellen, möchte aber mit Nachdruck darauf hinweisen, dass diese 51 Bündnispartner die volle Bandbreite sozialer Arbeit abdecken und in den unterschiedlichsten Größen-ordnungen und Strukturen von Verbänden, Vereinen und Organisationen Tag für Tag mit sehr vielen von den Menschen arbeiten, die hinter der anonymen Zahl 13.000 stecken. Täglich erleben wir z.B, wie Integration an fehlendem bezahlbaren Wohnraum scheitert, wie Konflikte in der Familie wegen Raumnot hochkochen, die Not der Menschen und wie sie daran zerbrechen.
Das sind Beispiele der ganz praktischen alltäglichen Sorgen der Menschen in Heidelberg:
E s r e i c h t! B e i v i e l e n N I C H T !

Wichtige gesellschaftliche Defizite und Aufgaben sind – obwohl daran gearbeitet wird – überhaupt nicht erle-digt. Aus den vielen brennenden sozialen Themen nennen wir nur beispielsweise:
• Nachhaltige Hilfe für alleinerziehende Menschen
• Ausreichende materielle Absicherung und genügend Wohnraum
• Teilhabe und Chancengleichheit für alle Kinder
• Verhinderung jeder sozialen Ausgrenzung

Angesichts des 14. Anlaufs vom Bündnis hier in Heidelberg für eine Verbesserung öffentlich zusammen einzu-treten und dem einhelligen Lob, den dieses Engagement erntet, kann man sich aber schon ein paar Fragen stel-len:
• Warum machen wir das immer wieder?
• Wer nimmt eigentlich die ca. 13.000 Benachteiligte in der Stadt wahr, die man doch nicht sehen kann, so wie den Bettler vor der Post?
• Was ändern diese 28 Veranstaltungen?
• Kommen wir tatsächlich ins Bewusstsein der Menschen in der Stadt?

Wahrnehmung ist wichtig.
Deshalb haben wir auch eine ganz spezielle praktische Bitte an unseren Schirmherren und Oberbürgermeister: Bitte setzen Sie sich dafür ein, dass die städtische Satzung uns zukünftig Großplakate an zentralen Orten er-möglicht. Wir brauchen eine hochrangige Wahrnehmung unserer Aktionswoche, sonst erfahren einfach zu we-nig Bürgerinnen und Bürger von diesem gesamtgesellschaftlichen Anliegen. Als einziges soziales Großereignis in Heidelberg möchten wir gleichrangige Rechte wie sie für Kultureinrichtungen gelten. Unser Dank ist Ihnen ge-wiss.

Wahrnehmung ist das Eine – Veränderungen das Andere.
Uns hat die Aktion vor der Bundestagswahl gezeigt, wie notwendig es weiterhin ist diese Themen auf die Ta-gesordnung zu setzen, auch wenn es erst einmal nur kleine Schritte sind. Aber weitere kleine Schritte zu gehen und nicht zu resignieren ermutigt, noch weiter zu gehen.
Es zeigt sich auch bei den Themen unseren Veranstaltungen in dieser Woche, dass diese offenen gesellschaftli-chen Aufgaben in einem der reichsten Länder der Welt kein Anlass sind, sich zurückzulehnen oder sie gar den einflussreichen Lobbyisten oder der Politik allein zu überlassen. Nein, stetiges gemeinsame Ringen ist angesagt, damit sich tatsächlich etwas grundlegend und dauerhaft so ändert, dass es auch wirklich „nachhaltig“ wirken kann. Das Soziale soll eben gleichrangig zurück! Also gleichwertig neben das Ökonomische und das gerade in Heidelberg so hoch angesiedelte Ökologische.

Die Kernfrage, die wir stellen ist: Welchen Stellenwert hat das „Soziale“ in unserer Stadtgesellschaft?
Es passiert ja nicht nichts bei uns hier in der Stadt. Wir sind nicht mehr auf dem gleichen Stand wie vor 10, 20 oder gar 30 Jahren. Das verkennen wir nicht. Doch:

Wir sind nicht da, wo wir hin wollen, wo wir hin müssen. Wir, das ist diese Gesellschaft im Sinne von Margret Atwood und Klaus Welzel. Und dafür brauchen wir – die Akteure und Sozialverbände – mehr Gehör und Unter-stützung für den Weg dahin.
Die notwendige Wertigkeit für soziale Fragen ist noch nicht gegeben.
Dafür wollen wir streiten und dafür brauchen wir politische Rückendeckung.
Wir brauchen in der Stadtgesellschaft und damit auch in der Kommunalpolitik eine grundsätzlich stärkere sozia-le Orientierung, die bei allen Entscheidungen mitgedacht wird.

• „Klare quantifizierte und qualifizierte Ziele“
• die dazu gehörenden „Ressourcen“ und
• damit „Planungssicherheit“ für die sozialen Akteure
müssen definiert sein und als zielorientierte Leitlinien – als Handlungsprogramm Soziales – konkrete Wirkung entfalten bei Haushaltsbeschlüssen und Projektförderungen. Warum nicht wie in anderen Bereichen das Ziel quantifizieren? Beispielsweise so: „In zehn Jahren statt 13.000 nur noch 8.000 Arme und armutsgefährdete Bür-gerinnen und Bürger“. Beim CO2-Ausstoß oder beim Wohnungsbau stehen ja auch Zahlen in den städtischen politischen Zielformulierungen. Ein Handlungsprogramm Soziales ausgerichtet an konkreten Zielen braucht ei-nen politischen Willen und entsprechende Beschlüsse. Dabei gilt in der Kommunalpolitik wie bei vielen komple-xen Aufgaben: Nur wer das Unerreichbare anstrebt, dem gelingt das Erreichbare!

Wir erwarten ein konkretes Handlungsprogramm Soziales mit klaren Zielen, an dessen Entwicklung und Umset-zung wir als soziale Akteure beteiligt sind. Wir sind nicht Bittsteller für uns, sondern gleichrangig ein wichtiger Teil in einer stark prosperierenden Stadt -in der wir ebenso wie Firmen, Institutionen, Kultureinrichtungen, Investoren, Hochschulen und ökonomische und ökologische Verbände, eine wichtige Aufgabe erfüllen. Eine nachhaltige und stabile Stadtgesellschaft braucht den sozialen Ausgleich und nicht die auch in Heidelberg leider oft stattfindende Verdrängung der sozial Schwächeren durch ökonomische Zwänge.

Wir wollen deshalb allen die Verantwortung tragen und eine Verbesserung anstreben, ans Herz legen, unsere Arbeit genauso wie die Umweltpolitik, die Stadtentwicklung, die Wirtschafts- und Verkehrspolitik und die gro-ßen Ziele und Projekte wie das Kongresszentrum, die es in Heidelberg gibt – gleichrangig zu sehen.
Die vielen Auszeichnungen für unsere tolle Wohlfühlstadt dürfen uns nicht vergessen lassen: Es gibt sozialpoliti-sche Ziele und Zusagen, die allen Heidelberger Gemeinderatsfraktionen 2014 in unseren Wahlprüfsteinen wich-tig waren, die faktisch noch nicht eingelöst sind.

Es reicht! Bei vielen NICHT!
Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir im Sinne des Gemeinwohls in täglicher Arbeit durchaus unter vielen Mühen und Herausforderungen anpacken. Das ist genauso so wichtig wie Ökologie und Ökonomie, und muss mehr ins Bewusstsein des politischen Alltagshandelns. Wir sehen uns deshalb sogar in der Pflicht, mehr Ressourcen da zu fordern, wo es hapert bei der Umsetzung von wichtigen sozialpolitischen Zielen.
Für fachliche Detail ist heute kein Raum, sie finden mehr auf unserer Webseite in den Wahlprüfsteinen und den Reden. Beispiele wären etwa die Fortentwicklung des ÖPNV-Sozialtickets, zuverlässige Quoten für Wohnungen für die Klienten der verschiedenen sozialen Beratungsstellen, die soziale Aufwertung und Mischung in den Quartieren und vieles mehr.

Schon jetzt möchten wir Ihnen Herr Oberbürgermeister Dr. Würzner danken, dass Sie heute hier sind und uns als oberster Entscheidungsträger Heidelbergs und als Vertreter der Schirmherrschaft unterstützen und aus ers-ter Hand darüber informieren, welche Ziele und Maßnahmen im Bereich Soziales und Wohnen verfolgt werden und wie wir als Experten dabei einbezogen werden.

Zum Schluss möchte wir für diesen weiteren gemeinsamen Prozess bei der Entwicklung dieser Stadt noch eine Inschrift als Motto mitgeben, die sich sogar direkt an Sie, verehrter Herr Oberbürgermeister richtet:

In der Peterskirche gibt es einen Grabstein für den Heidelberger Bürgermeister – heute wäre es der Oberbür-germeister – Hans Franz Nofels. Er ist 1602 verstorben, lebte „uffm marckht“ und wurde mit folgendem Satz auf dem Stein geehrt: „UND SO WOHL GANTZER STATT ALS SONDERLICH DEN ARMEN MIT HILF UNDT RATH TREULICH BEYGESPRUNGEN.“

Lassen Sie uns gemeinsam zum Wohl der ganzen Stadt den Armen mit Hilfe und Rat BEYSPRINGEN, denn wirk-same Bekämpfung von Armut und Abstiegsangst geht nur in gemeinsamen Netzwerken.